Druckreif sprechen – 4

Zum Verhältnis von Wort und Schrift

(Auch Schlussteil des Essays: „Druckreif sprechen“ aus der letzten Nummer der RAL, S.123-127) 

Dass der der mündliche Modus der Sprache der Bildung von Gedanken nicht widerstreitet, sondern im Gegenteil zu befördern vermag, hat Heinrich von Kleist in einem berühmt gewordenen Text dargelegt. Der Titel dieses Textes ist zum geflügelten Wort geworden: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.“ Um auf Gedanken zu kommen, kann es förderlich sein, sich erst einmal vom Fluss der mündlichen Rede tragen zu lassen. Wenn sich dabei ein Gedanke herauskristallisiert, so merkt man ihm seine Entstehungsweise noch an. Er gibt zu erkennen, nicht bloß Gedanke, sondern darüber hinaus Frucht eines vitalen Prozesses zu sein:

„Die Sprache ist dann alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rad des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse. Etwas ganz anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.“ (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2. München: Hanser 1964, S. 322)

 

Ein Irrtum wäre es demnach, den Gedanken durch das Ausblenden seines mündlichen Gärungszustandes konsolidieren zu wollen. Wenn man ihm noch anmerkt, woher er kommt, behielte er die Frische eines Aufbruchs. Außerdem versteifte er sich nicht darauf, die definitive Gestalt des Auszudrückenden zu sein. Er gälte nur als eine mögliche Version dieses Auszudrückenden, nämlich als diejenige, die dem Horizont des gegenwärtigen Denkens entspräche. So wäre ihm auch der Weg nicht dazu abgeschnitten, gegebenenfalls wieder in den lebendigen sprachlichen Prozess, die Sphäre mündlicher Unfertigkeit, einzutauchen. Sterilität bedrohte ihn nicht mehr; seine Regeneration bliebe möglich. Was unter dem Aspekt des fertigen Gedankens als Regression erschiene, erwiese sich damit als Geheimnis für seine Entwicklungsfähigkeit.

Das mündliche Wort zieht im Unterschied zum Begriff weite Kreise. Statt dass es wie der Begriff an sich selbst festhalten würde, verschwendet es sich. Es fängt Echos auf und spürt Klängen nach. Der Begriff stört sich an dieser Porosität des Wortes. Er gibt vor, es auf seinen Kern zurückzuführen und ihm dadurch zur Konsistenz zu verhelfen. Das dergestalt stabilisierte Wort, das sich vorzüglich als Schriftwort manifestiert, droht jedoch durch diese Stabilisierung gelähmt zu werden. Zu einer verbalen Statue wird es, zu der man respektvoll emporschaut. Um es aus diesen Ideenhimmel wieder auf die Erde zurückzuholen, dürfte es nicht mehr vor der Mündlichkeit zurückschrecken. Im Rückgriff aufs Mündliche müsste es seinen testamentarischen Anspruch aufgeben und sich zu seiner Vorläufigkeit bekennen. Indem es auf diese Weise durchlässig wird für die Bewegung der Zeit, käme auch sein dialogischer Charakter zur Geltung.   Es erstarrte nicht mehr in undialogischer Abstraktheit. Der Gedanke, der seine Vergänglichkeit nicht mehr maskiert, sondern offenbart, wirkt vertrauenswürdig.

Umgekehrt bleibt aber auch das mündliche Wort auf das Schriftwort und den Begriff angewiesen. Ohne Bezug darauf bliebe sein Reichtum unerschlossen. Es beschränkte sich darauf, trotzig wie der orthodoxe Dialektsprecher über diesem Reichtum zu brüten.

Helmut Pillau